Eigentlich mag ich Gnade. Sie ist eines der größten Konzepte der Weltgeschichte. Ein Affront gegen das Böse in und um uns. Die Befähigung zum Menschsein trotz aller Unfertigkeiten, die uns umgeben und durchdringen. Aber tatsächlich mag ich Gnade nur auf den ersten Blick. Und dann auf den vierten oder fünften wieder. Dazwischen nervt sie mich auch einfach. Da tut sich ein großer kaum überwindbarer Gap zwischen meinem Hirn und meinem Herz auf.
Der Gap
Mein Herz sehnt sich meistens eher nach Gerechtigkeit. Und ein klein bisschen nach Rache. Erzählt es nicht weiter, aber ich mag die Filme, in denen ein Guter «gnadenlos» mit dem und den Bösen aufräumt. Danach kann ich mit befriedetem Herzen im Bett einschlafen. Und da crashen meine theologischen Überzeugungen mit aller Wucht auf die Bedürfnisse meiner Seele. Ich kann mich sehr mit den Gefühlen von Jona identifizieren, den es nervt, dass Gott die Bösen nicht einfach wegmacht: »… denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist …« (Jon 4,2). Dabei bin ich mir meines Irrglaubens zu wissen, welches die Guten und welches die Bösen sind, sehr wohl bewusst. Weil dieses dualistische Denken der Tatsache nicht gerecht wird, dass selbst in mir diese Fähigkeit zu bösen Dingen steckt und die Welt in diesen Belangen verwobener ist, als ich mir oft vorgaukle.
Christus großer Siegeszug am Kreuz hat genau diese Dynamiken ausgehebelt: Auf die abgrundtiefste und bösartigste Idee, die sich die Menschheit ausdenken konnte – als Geschöpf den eigenen Schöpfer zu töten –, hat er mit Nichthass, Nichtzorn und Nichtrache reagiert. Mit purer und unverdünnter Liebe. Und damit den Teufelskreis durchbrochen, dass auf Böses immer mit Bösem geantwortet werden muss. Seine selbstlose Hingabe und Selbstaufgabe ist ein schier unerträglicher Pazifismus in Reinform. Und genau das erzeugt diesen Gap zwischen Herz und Hirn in mir.
Kein schwaches Konzept
Zu Ende gedacht bedeutet das, dass ich Gnade immer latent als ungerecht empfinde. Mit einer einzigen Ausnahme: Sie gilt mir.
Dabei ist Gnade nicht etwa ein schwaches Konzept, um die Dinge unter den Tisch zu wischen. Gnade schaut den Tatsachen in die Augen. Verzichtet aber auf das vermeintliche Recht, Vergeltung zu üben, so zu reagieren, wie man eigentlich müsste, sollte und wollte. Gnade ist deshalb die stärkst mögliche Form der Reaktion, weil sie allen inneren Widerständen und Empfindungen trotzt und eine Gerechtigkeit schafft, wie nur Gott sie schenken kann.
Die Gnade als göttliche Erfindung ist dabei so groß, dass sie und das Kreuzgeschehen sich menschlichem Verstehensdurst nicht unterwerfen. Wir werden nie an den Punkt gelangen, an dem wir Gott und sein Heilswirken durchdringend verstanden haben. Epheser 2,7 verdeutlicht, dass wir zu Lebzeiten nicht fähig sind, den ganzen Reichtum der Gnade zu erfassen. Gott sei Dank gibt es noch die Ewigkeit.
Tatsächlich mag ich Gnade nur auf den ersten Blick.
Der Verbrecher Dismas
Im Buch «Kreuzweise» habe ich viel über Gnade nachgedacht und bin dabei über den Verbrecher am Kreuz gestolpert, den das apokryphe Nikodemus-evangelium Dismas nennt. Er torpediert so ziemlich jedes unserer theologischen Konstrukte und erzeugt – zumindest in mir – ein weiches Herz. Wie Christus mit ihm umgeht, entlarvt viele unserer Glaubensüberzeugungen als menschliche Konstrukte und religiösen Verordnungen, die – nur von Gottes Gnade unterspült – gnadenlos einstürzen. Dismas verspottet Christus, aber innerhalb weniger Stunden erfährt er eine Herzensveränderung. Sie endet in der letzten Bitte: »Jesus, denk an mich, wenn du deine Herrschaft als König antrittst!« Worauf Jesus entgegnet: »Ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43).
Dismas ist die einzige Person, die dieses Versprechen erhalten hat. Was für eine unerwartete Perspektive für einen Mann wie ihn, was für eine unerhörte Gnade. Wie ein Blitz sich am Turm der Kirche entlädt, entlädt sich Gottes Gnade an Dismas am Kreuz. Und das kann irritieren. Denn in Dismas’ Geschichte fehlt so ziemlich alles, was man heute als »christlich entscheidend wichtig« verorten würde. Es taucht keine Taufe auf – weder als Kind noch als Erwachsener –, kein Abendmahl, keine Eucharistie, weder Konfirmation noch Firmung. Kein vorformuliertes Übergabegebet, kein Ave Maria, kein Vaterunser, keine Beichte und auch kein Apostolisches Glaubensbekenntnis. Weder Geistestaufe noch Sprachengebet. Weder Kanzel, Worship noch Bibel. Weder Jüngerschaftsschule auf Hawaii, kein Fischaufkleber auf dem Esel, kein »THE FOUR«-Band ums Handgelenk. Kirche kannte er nicht und die Auferstehung als alles entscheidenden Aspekt der Kreuzigung hatte er knapp verpasst. Jesus tut kein Wunder, nimmt Dismas nicht den Schmerz. Der Tod erwartet diesen Mann unweigerlich. Er muss erfahren, dass Leid, Schmerz und sogar Tod keineswegs ein Zeichen von Gottesferne sind. Ganz im Gegenteil: Dismas war Christus in dieser existenziellen Situation so nah wie niemand sonst. Während sich eine innere Verwandlung vollzieht, ändert sich an den äußeren Umständen nichts. Dismas hängt. Leidet. Und stirbt.
Aber über der Geschichte von Dismas schwebt die »erbarmungslose« Gnade wie das Schwert über Damokles – um unausweichlich »zuzuschlagen«. Nicht vernichtend, sondern befreiend.
Gottes ungerechte Gnade gilt auch mir. Ich nehme sie irritiert und dankbar an. Auch ich bin ein Dismas.