08/2025-09/2025

Gottes Gnade

Gottes Gnade ist Gottes Gabe von Gutem – an uns, die auf eine solche Gabe keinen Anspruch haben. Hätten wir auf sie Anspruch, dann wäre sie nicht „Gottes Gnade“; sie wäre „unser Verdienst“ oder „unser Recht“. Zum Wesen der Gnade aber gehört, dass sie unverdient zuteil wird.
Schon auf den ersten Bibelseiten beschreibt das Buch Genesis Gott als gnädig, als Geber von unverdientem Guten. Im ersten Schöpfungsbericht (1Mo 1) gibt Gott uns Menschen und allen seinen Geschöpfen Leben, Raum zu leben, Segen und (uns Menschen) einen Auftrag. Das Widergöttliche wird von Gott zurückgedrängt in seine Grenzen. Im zweiten Schöpfungsbericht gibt Gott uns Menschen Odem, schafft uns ein gleichwertiges Gegenüber und gibt uns Speise „von allen Bäumen des Gartens“. Unverdient.
Das zeigt, dass nicht erst das Neue Testament einen gnädigen Gott lehrt. Und nicht nur das Alte Testament kennt Gottes Zorn und Gericht! Beide Testamente kennen beides. Schon Mose ruft im Alten Testament auf dem Sinai zu Gott: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ (2Mo 34,6). Und doch lehrt Jesus im Johannesevangelium auch vom Gericht: „Es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts (Joh 5,29).

Unverdient

Dem Unverdient-Sein der Gnade auf Seiten des Menschen entspricht Gottes Freiheit, Gnade zu gewähren oder zu verweigern. Kein Geschöpf erzwingt oder verhindert Gottes Gnade. Im Buch Jona hadert der Prophet mit Gottes Gnade, die dieser frei, gegen Jonas Wunsch, den gerichtsreifen Bewohnern Ninives zuteil hat werden lassen: „Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen“ (Jon 4,2).
In den Evangelien kommt das Wort „Gnade“ zwar nur selten vor, aber nach ihren Erzählungen offenbart sich der gnädige Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus. Durch Jesus Christus als Mitte der Evangelien wird damit gleichzeitig Gottes Gnade zur Mitte der Evangelien. In der Einleitung des Johannesevangeliums kommt das sonst seltene Wort „Gnade“ deswegen nicht zufällig in besonderer Dichte vor: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. […] Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,14.16-17).
Paulus gilt als Theologe der Gnade. Etwa zwei Drittel des Wortvorkommens „Gnade“ im Neuen Testament befinden sich in seinen Briefen. Paulus entfaltet die Gnade Gottes vor dem Hintergrund des göttlichen Gerichts, vor dem jeder Mensch offenbar werden muss. Es geht ihm um unsere Errettung aus Gottes Gericht durch Gottes Gnade, also unverdient. Im Epheserbrief (2,8f.) heißt es: „Aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“ Schon in diesen zwei Versen wird deutlich: Errettung ist allein Gottes souverän erteilte Gnade. Wir können nichts aufwei-sen, das uns einen Anspruch auf Errettung aus dem Gericht gibt. Besonders deutlich hat Paulus das in Römer 5,8 formuliert: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder [!] waren.“ Der Empfang der Gnade braucht deswegen einen bestimmten „Modus“ auf Seiten des Menschen, der alles Verdienstliche ausschließt. Dieser Modus ist der Glaube, nicht die Werke.

Durch Jesus Christus als Mitte der Evangelien
wird damit gleichzeitig Gottes Gnade
zur Mitte der Evangelien.

Freiheit und Verantwortung

Die Gnade Gottes hat Christen immer wieder zum Nachdenken angeregt und auch für Streit gesorgt. Denn, so fragen manche, wenn alles, wirklich alles, an Gottes Gnade liegt, wo bleibt dann die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen? Und, wenn ich nur durch Gnade zum Glauben kommen kann, warum ist Gott dann vielen Menschen offenkundig nicht gnädig? Wichtige Fragen. Schwierige Fragen. Ein Beispiel aus der Geschichte der Theologie:
Pelagius (er lebte um die Wende vom 4. auf das 5. Jahrhundert) lehrt, dass der Mensch als Geschöpf Gottes in der Lage ist, Gottes Willen zu erfüllen. Dass das so ist, nennt Pelagius Gnade. Wozu aber dann noch Christus? Seit Christus gibt es etwas, so Pelagius, das es von Adam bis Christus nicht gab, nämlich Sündenvergebung. Sie flankiert den Weg der Heiligung. Pelagius vertritt somit ein optimistisches Menschenbild. Der Mensch ist nicht tot in Sünden, sondern fähig, von sich aus Gott zu gehorchen. Von Gnade und Rechtfertigung lässt sich nach Pelagius noch insofern sprechen, als Gott den Menschen als Geschöpf so ausstattet, dass er fähig ist, seine Gebote zu erfüllen, und damit im Gericht zu bestehen. Es geht Pelagius, wenn man so will, um Schöpfungsgnade, nicht um Erlösungsgnade.
Der späte Augustin (354-430) lehrt anders. Wir sind nicht nur Täter gelegentlicher Einzelsünden (wie bei Pelagius), sondern ganz in Sünde verstrickt. Sünde ist eine Macht, die nicht wir im Griff, sondern die uns im Griff hat. Gnade heißt bei Augustin nicht mehr, wie bei Pelagius, dass der Mensch als natürliches Geschöpf die Fähigkeit hat, nicht zu sündigen. Gnade heißt, dass Gott selbst im Menschen die Erfüllung seines Willens wirkt. Es kommt also zwar zu einer „Aktivierung“ des Menschen, aber letztlich ist es Gott, der wirkt. An keiner Stelle hat der Mensch die Möglichkeit eigener Mitwirkung. Alles ist reine Gnade.
Augustin steht der biblischen Rede von Gnade näher als Pelagius. Schwierige Fragen sind trotzdem noch zu beantworten oder wenigstens auszuhalten. Was auf jeden Fall unsere Aufgabe bleibt, ist, Gott für seine allumfassende Gnade zu danken, „damit sich nicht jemand rühme“.

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