Gedanken zu einer bekannten Geschichte aus dem Buch Daniel
Was macht ein gutes Frühstück aus? – Für mich beginnt ein wirklich guter Tag mit einer großen Tasse Schwarztee. Und erst später folgt dann ein leckeres Müsli mit einer nicht ganz so großen Tasse Kaffee. Ich habe es schon ausprobiert und verworfen, den Tag mit einem erschreckend krossen Körnerweckle und einer sofortigen Tasse Kaffee zu beginnen. Nicht mein Ding.
Es wäre bestimmt spannend zu erkunden, wie viele von uns Weißbrot und Marmelade, Nutella oder Cerealien auf ihrem täglichen Ernährungsplan haben. Die Zeiten, in denen es ein „Standardfrühstück“ gab, dürften wohl vorbei sein. Selbst die Option „Kein Frühstück“ erscheint besser als eine Zuckerbombe. Der bekannte Leitspruch „Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.“ erscheint inzwischen ziemlich fragwürdig, seit allgemein bekannt ist, dass er von John Harvey Kellogg stammt. Ja, genau von diesem Kellogg, der die Cornflakes macht.
So sind viele von uns hin- und hergerissen zwischen einem leckeren Essen, einem gesunden Frühstück und der Option „kein Frühstück“. Statt ein Vollwertfrühstück einfach von ganzem Herzen zu lieben, wie es sich gehören würde. Da ist schon was dran: Alle wollen Vollwert – niemand will kauen. Und das auch über das reale Frühstück hinaus.
Petrus vergleicht unser Frühstück und überhaupt unsere Ernährung und das, was unserem Körper guttut, mit dem, was unserem inneren Menschen guttut. Er fordert die Christen seiner Zeit auf: „Genauso, wie ein neugeborenes Kind auf Muttermilch begierig ist, sollt ihr auf Gottes Wort begierig sein, auf diese unverfälschte Milch, durch die ihr heranwachst, bis das Ziel, eure endgültige Rettung, erreicht ist“ (1Petr 2,2; NGÜ).
Offensichtlich gibt es so etwas wie eine gesunde, vollwertige Ernährung für unseren Körper. Menschen, die sorgsam mit ihm umgehen, richten sich danach. Und es gibt so etwas wie eine gesunde, vollwertige Ernährung für den inneren Menschen. Es liegt offen zu Tage, dass es uns Christen genauso schwerfällt, sorgsam mit unserem inneren Menschen umzugehen, für ihn zu sorgen, auf ihn zu achten, wie es uns schwerfällt, achtsam mit unserem Körper umzugehen. Darum ist die Ermahnung des Petrus wahrscheinlich mehr als notwendig. Damals wie heute.
Alle wollen Vollwert –
niemand will kauen.
Doch die Vollwertgeschichten der Bibel sind damit keineswegs erschöpft. Eine ist einen tieferen Blick wert. Im Jahr 580 v.Chr. verschlug es den Jugendlichen Daniel mit seinen Freunden Hananja, Mischael und Asarja nach Babylon in die „Kaderschmiede“ des Königs Nebukadnezar. Die vier jungen Leute sollten vorbereitet werden auf die anspruchsvollen Aufgaben als Beamte am Hof des Königs in einem Weltreich. Zu den Voraussetzungen gehörten nicht nur eine grundlegende körperliche Fitness und geistige Aufnahmefähigkeit der Kandidaten (Dan 1,4), sondern auch das Privileg und die Bereitschaft, das Leben am Hof angemessen genießen zu können, d. h. den Kult und die Götter des Reiches zu ehren. Und hier setzt nun die Frage nach der Vollwerternährung an: Selbstverständlich hält der König die Ernährung bei Hof für förderlich und will sie seinen Nachwuchsverwaltern zugutekommen lassen. Zumindest in Teilen ist diese Nahrung jedoch mehr, als sie materiell scheint: Fleisch von Tieren, die in einem der Tempel zu Ehren einer der Götter geschlachtet wurden. Und Wein, der fremden Göttern geweiht war. So wurde aus dem Trivialen, aus Essen und Trinken, eine doppelte Anfrage: Tut diese Nahrung dem Leib von Daniel und seinen drei Freunden gut? Und tut diese Nahrung ihrem inneren Menschen, ihrer Psyche und ihrer geistlichen Existenz gut? Eine Vollwert-Frage im doppelten Sinn.
Vollwert – der doppelte Sinn
Die Entdeckung der Parallelität bei kausal nicht verbundenen Ereignissen im Leben, die trotzdem miteinander zu tun haben (und auch die Gestaltung solcher Parallelitäten in Literatur, im Film), wird als Synchronizität bezeichnet (nach C. G. Jung). Sie ist ein Schlüssel bei der Entdeckung oder Darstellung von Sinn. Ganz ähnlich „synchron“ geht auch der Verfasser des Danielbuchs vor. Zunächst zeigt er den Sinn einer „reinen“ Ernährung im Sinne der jüdischen Reinheitsgebote. Dann wechselt er die Perspektive und findet eine dreifache Antwort auf die Frage, was Daniels geistliche Vollwerternährung ausmacht.
Wie geistliches Leben aussieht – eine dreifache Antwort
Ein kurzer Blick noch weiter in die Vergangenheit kann verdeutlichen, wie sich der Umgang mit dem Wort Gottes (Gesetz und Propheten) durch die Zeit im babylonischen Exil verändert hat und durch die Veränderung zugleich im neuen Umfeld abgesichert wird. Waren alle Götter etwa der Ägypter und der Babylonier Götter mit bestimmten „Zuständigkeiten“, so bestand die einzige Zuständigkeit des Gottes der Erzväter darin, für ebendiese da zu sein. Immer. Überall. Der Gottesname Jahwe (bei Luther: HERR) verdeutlicht das persönliche Verhältnis zu diesem Gott „Ich bin der, der (für dich) da ist“. Sucht man diesen Namen im Buch Daniel, wird man nur schwer fündig. Der Name Jahwe wurde ersetzt durch den Titel „Gott der Himmel“. Aus dem „Volk Israel“ wird in dieser Zeit „die Juden“. Mit dieser Metamorphose wird aber der Glauben an den Gott Israels nicht verraten, sondern das Wesen dieses Glaubens gerade bewahrt. In der Rezeption der eigenen Tradition findet Israel zur Buße. – Und in diesem intimen Gebet (Dan 9) leuchtet mit einem Mal der alte Gottesname wieder auf: „Ich betete aber zu dem HERRN, meinem Gott … Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit“
(Dan 9,18). Auf diese Weise wird alte Erfahrung mit dem Wort Gottes in der Gegenwart lebendig.
Das Buch Daniel wird zu einer einmaligen Entdeckungsreise in drei tragende Glaubenssäulen:
- Es sind die alten Glaubenszeugnisse im Gesetz und den Propheten, die den Inhalt des Glaubens auch in seiner nun veränderten Gestalt bilden. Es ist Gottes Wort, das wie in alter Zeit trägt und tröstet und inhaltlich bindet.
- Daniel liegt nicht nur in Kap. 9 auf dem Boden und betet. – Sondern das Gebet zieht sich vom Beginn des Buches bis zur letzten Seite durch. Dieses Gebet ist privat, aber eben nicht nur, weil es diese Unterscheidung von privat und öffentlich noch nicht gibt. So wird jedes Gebet auch immer zu einem öffentlichen Bekenntnis zum Gott Israels.
- Aufsehen erregt dieser Glaube. Zweimal werden Daniel bzw. seine Freunde zum Tode verurteilt wegen ihres Gebets. Für ihren Glauben werden sie angefochten und erleben aussichtslose, lebensbedrohliche Situationen.
Und alles hängt mit allem zusammen: Für Daniel und seine Freunde sind die Bindung an die Schrift, das Gebet und die Anfechtung drei Elemente ein und desselben (geistlichen) Geschehens: Vollwerternährungsprogramm ihres Glaubens.
Meditatio, Oratio und Tentatio bei Martin Luther
Aus der Beschäftigung mit dem 119. Psalm entwickelt Martin Luther 1539 im Vorwort zu seinen Gesammelten Werken drei Regeln, die „dir anzeigen eine rechte Weise in der Theologia zu studieren“ und „heißen also: Oratio, Meditatio, Tentatio“.
Meditatio meint dabei das ständige Wiederkauen der Inhalte des Glaubens. So wird ein guter Theologe, „wer von der Heiligen Schrift ausgelegt wird, sich von ihr auslegen lässt und sie als von ihr Ausgelegter anderen Angefochteten auslegt“. Sowohl bei Daniel als auch bei Martin Luther führt diese Beschäftigung mit der Heiligen Schrift zu einer je eigenen Neuauslegung ihrer Glaubenstradition, die dann im Judentum bzw. in der Reformation mündet.
In der Oratio (im Gebet) taucht der Mensch ein in Gottes Wirklichkeit. Das eigene Leben wird so „versprochen“ mit Gottes Wort und dessen Realität. Die je eigene Lebenswirklichkeit erscheint im Licht des Wortes Gottes voller Sinn und der dünne Vorhang zwischen dieser sichtbaren Welt und der Welt Gott scheint transparent zu werden. „Wir sind Teil dieser Geschichte, ein Teil vom großen Plan. Wir sind Teil deiner Geschichte, die vor uns begann und nach uns weitergeht“ (Sefora Nelson, 2014).
In der Tentatio (der Anfechtung), geschieht die Abwehr der Welt gegen Gottes Wort im eigenen Leben. Sie ist keinesfalls eine zu vermeidende Folge des geistlichen Schwarzbrotessens, also geistlichen Wachstums, sondern ist selbst Teil davon. Sie ist die Regel und nicht die Ausnahme und so selbst unbedingter Teil des Glaubensgeschehens.
Das volle geistliche Ernährungsprogramm für unsere Zeit
Wir Christen von heute sind auch ganz Kinder unserer Zeit und tun uns in mancher Hinsicht schwer, uns in der Praxis für so ein Vollwert-Ernährungsprogramm wirklich zu begeistern. Wir lernen Selbstfürsorge für unsere Seele und unseren Körper, entdecken zunehmend Zusammenhänge etwa zwischen Selbstablehnung und Autoimmunerkrankungen, Ernährung und Psyche und täglich mehr. – Doch selbst die offensichtlichsten Zusammenhänge zwischen geistlichem Wachstum und geistlicher Ernährung wollen wir für uns selbst lieber nicht umsetzen.
Das innere Bewegen des Wortes Gottes, das Gebet und die Anfechtung sind zusammen das umfassende Vollwerternährungsprogramm unseres Christenlebens. Scheitern wir daran, dann scheitert unser Glaubensleben, lassen wir uns darauf ein, verändert das alles. Dass es Phasen im Leben gibt, in denen wir Vollwerternährung nur schwer kauen, geschweige denn schlucken wollen, ist ziemlich normal. Im Ergebnis fühlen wir uns dann aber genervt, frustriert, gelangweilt, im schlimmsten Fall wird uns unser Glaube gleichgültig, weil sich dann das Leben ohne Glauben immer noch besser anfühlt. Aus der Perspektive Jesu ist eine solche Phase der Essensverweigerung und des Glaubensfrusts Anlass, uns intensiv zu trösten. Denn auch das ist wahr: Wir müssen nicht immer wachsen im Glauben. Wir dürfen auch an uns selbst scheitern und gerade darin dann Trost finden in den Armen Jesu. Denn wenn wir wieder zurück sind bei ihm und bereit (siehe z. B. Joh 21,17), kann er uns erneut an der Hand nehmen und nächste Schritte mit uns gehen.