Einem Adler sagt man nach, dass kein Geschöpf der Sonne so nahe kommen kann wie er. Zudem soll ein Adler in die Sonne schauen können, ohne blinzeln zu müssen. Zutreffend wurde der Evangelist Johannes in der alten Kirche als „Adler“ bezeichnet.
Sehen – Die theologischen Linien erkennen
Das Johannes-Evangelium zeigt uns Jesus …
… der vor Grundlegung der Welt bei Gott war (1,1);
… der Gott ist (1,18);
… der als Erlöser aus der himmlischen Welt in „sein Eigentum“ kam (1,11).
Der Begriff „sehen“ kommt 122-mal im Johannes-Evangelium vor, davon 15-mal im ersten Kapitel. Das Ziel ist das ewige Leben durch den Glauben an den Namen Jesus (20,31).
Erkennen – Das Besondere des Johannes-Evangeliums
Einzigartig ist der „Johannes-Prolog“ (1,1ff.; siehe unter „Im Anfang …“). Dieses Evangelium hat umfangreichere Redeteile als die Synoptiker: Das Gespräch mit Nikodemus (3); die Frau am Jakobsbrunnen (4); das Brotkapitel (6); die Heiliger Geist-Rede (14+16); das hohepriesterliche Gebet (17); die Redepassagen bei der Verhaftung (18,1ff.), dem Verhör beim Hohenpriester (18,12ff.) und bei Pilatus (18,28ff.); die seelsorgerlichen Gespräche mit den Jüngern nach Ostern (20-21). Jesus scheint öfters auf einer anderen Ebene als seine Gesprächspartner zu sprechen (Kap. 2,4; 4,10ff.; 6,53ff.; 11,20ff.). Die „Ich bin“-Worte sind inhaltlich wie theologisch einzigartig (6,35; 8,12; 10,11; 11,25; 14,6; 15,19).
Glauben – Die Strahlkraft des ersten Zeichens
Die „Hochzeit zu Kana“ (Kap. 2) ist das erste Zeichen im Johannes-Evangelium. Es ist voller heilsgeschichtlicher Andeutungen:
- Der „dritte Tag“ (2,1) verweist auf den Anbruch der endzeitlichen Heilszeit, die mit dem Kommen Jesu in die Welt und der Auferstehung Jesu begann.
- Jesus spricht von „seiner Stunde“, die noch nicht gekommen ist (2,4); diese beginnt mit seiner Passion (12,2; 17,1).
- Die sechs steinernen Krüge stehen für die kultischen Waschungen und damit für das alttestamentliche Gesetz. Jesus verwandelt darin Wasser zu 600 Liter besten Wein – ein Kennzeichen endzeitlicher Freude.
- Die Hochzeit ist schon im Alten Testament ein Symbol für den Liebesbund Gottes mit seinem Volk (vgl. Hos 1-3; Jes 54; 62; Jer 2-3; 31, Hes 16). Es findet seine Erfüllung in der „Hochzeit des Lammes“ (Offb 19,6ff.).
Im Anfang – Jesus als der präexistente Gott
Jesus, das „Wort“ (griech.: „logos“), war von je her eine Einheit mit Gott (1,1-3). Damit geht Johannes weiter zurück als die Genesis (1Mo 1,1ff.). Johannes „überbietet“ das Buch vom Anfang („Genesis“) und die anderen Evangelien, und wird zum Buch der Bücher. Jesus ist nicht nur der „Messias der Juden“, sondern der Retter der Welt: Das „Wort“, wurde „Fleisch“ (1,14) und das „Licht“, „scheint in der Finsternis“ (1,5), als er in sein „Eigentum“ kam (1,11). Johannes offenbart Jesus als den Gott, den keiner zuvor gesehen hat (1,18).
„Ego eimi“ – Jesus als der bekennende und handelnde Gott
Die Synoptiker hatten bestimmte Zielgruppen vor Augen, für die sie wichtige biografische Stationen im Leben Jesu nachzeichnen. Das Johannes-Evangelium ist keine Biografie, sondern es beschreibt mit sieben exemplarischen Zeichen und Worten Jesus als den menschgewordenen Gott. Sieben Mal bezeichnet sich Jesus als Gott. Dabei verwendet er den Namen, mit dem dieser sich Mose am brennenden Dornbusch offenbarte (2Mo 3,14; „Jahwe“: „Ich bin“; griech.: „ego eimi“, „ich bin“). Die ersten drei Evangelisten verwenden den Begriff „Machttaten“ (griech.: „dynameis“) für Wunder. Johannes verwendet den Begriff „Zeichen“ (griech.: „Semeion“), diese verweisen auf seine präexistente Herrlichkeit als wahrer Gott.
Passion – Jesus als der erhöhte Gott und König
In Kapitel 13 beginnt der Weg Jesu zu Passion, Kreuz, Tod und Auferweckung; das ist beinahe die Hälfte des Buches. Selbst die dunkelsten Stunden im Leben Jesu, vom Gebet im Garten Gethsemane (17,1) bis hin zum Tod am Kreuz, sind vom österlichen Licht beleuchtet, das bereits im Prolog aufleuchtet und in den letzten zwei Kapiteln des Johannes-Evangeliums hell erstrahlt (20+21).
Im Passionsbericht beschreibt das Johannes-Evangelium Jesus als den, der in allen Situationen die Kontrolle über das Geschehen behält:
- Er geht auf diejenigen zu, die ihn verhaften wollen (18,1-11).
- Er verhandelt den freien Abzug für die Jünger (18,8).
- Er argumentiert ruhig und klar im Verhör vor Hannas und Kaiphas (18,12-24).
- Er bestimmt das Gespräch mit Pilatus (18,28-40).
- In der äußerlichen Erniedrigung von Geißelung, Verspottung und Verurteilung ereignen sich – einem höfischen Protokoll folgend – sämtliche Schritte einer königlichen Krönung (19,1-16a). Nicht erst in der Auferstehung, sondern in der Tiefe der Passion erfolgt die Erhöhung zum König.
- Als Souverän trägt Jesus sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte, nicht Simon von Kyrene (19,16b-31).
- Am Kreuz erfolgt kein Leidensschrei der Gottverlassenheit (Mt 27,46; Mk 15,34) und kein Sterbe-
- gebet (Lk 23,46), sondern laut vernehmbar ertönt der Triumphruf des Erlösers: „Es ist vollbracht!“ (wörtl.: „vollendet“; 19,30).
- Mit dem Begriff „Vollendung“ greift das Johannes-Evangelium die Vollendung der Schöpfung in 1Mo 2,2 auf und vollendet die „zweite Schöpfung“, die Erlösung der in Sünde gefallenen Welt.
