Ein evangelischer Bergpredigt-Christ
Am 9. April 1945, also vor genau 80 Jahren, wurde Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) auf persönlichen Befehl Adolf Hitlers unmittelbar vor Kriegsende im oberpfälzischen KZ Flossenbürg hingerichtet. Dass er bereit war, für seine Überzeugungen mit seinem Leben einzutreten, macht ihn bis heute gerade für junge Menschen glaubwürdig.
Ich möchte im Folgenden zeigen, welche Rolle die Bergpredigt auf dem Weg zum Martyrium für ihn gespielt hat.
Die Entdeckung der Bergpredigt
Bonhoeffer fand während eines Studienjahrs am Union Theological Seminary in New York 1930/31 – noch vor dem Dritten Reich und dem Kirchenkampf – zu einem persönlichen Glauben an Jesus Christus, der unmittelbar mit einem neuen Verständnis der Bergpredigt verbunden war.1 Ausgelöst wurde seine Hinwendung zu Jesus durch Gottesdienst- und Gemeinschaftserfahrungen in einer schwarzen Baptistengemeinde Harlems.2 Sein Glaube war fortan geprägt von zwei Neuentdeckungen: zum einen von einer neuen Sicht der Bibel als persönlicher Anrede Gottes, als „Liebesbrief Gottes“,3 zum anderen vom Gedanken der „Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi“4, die sich für ihn im Engagement für „Friede[n] und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus“ konkretisierte.5 Wenn Martin Luther als „Weihnachts-Christ“ bezeichnet werden kann – das Kind in der Krippe von Bethlehem ist für den Reformator der klarste Spiegel der väterlichen Liebe zum Menschen6 –, ist Dietrich Bonhoeffer fortan ein „Bergpredigt-Christ“. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich sowohl sein theologisches Denken als auch sein gelebter Glaube als Bemühung um die möglichst wörtliche Befolgung der Bergpredigt verstehen – bis dahin eine Domäne katholischer Frömmigkeit, wenn man einmal von den Täufern des 16. und den radikalen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts absieht. Für den damaligen Mainstream-Protestantismus Europas war das ein völliges Novum, wurde doch die Bergpredigt nicht als Anweisung zum christlichen Leben, sondern als Sündenspiegel, weil vom Menschen nicht erfüllbar, verstanden.
„Nur der Glaubende ist gehorsam,
und nur der Gehorsame glaubt.“Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, 61.
Zurück in Europa, begann Bonhoeffer über die Bedeutung der Bergpredigt für Theologie und Kirche nachzudenken. Flankiert wurde dieses Nachdenken von einer geistlichen Lebensführung, wozu regelmäßige Gottesdienstteilnahme, persönliche Gebetszeiten und Bibellese gehörten. Am 28.4.1934 schrieb er mitten in der Zeit des Kirchenkampfs an seinen Schweizer Pfarrersfreund Erwin Sutz: „Wissen Sie, ich glaube – vielleicht wundern Sie sich darüber – daß die ganze Sache an der Bergpredigt zur Entscheidung kommt. […] es geht immer um das Halten des Gebotes und gegen das Ausweichen. Nachfolge Christi – was das ist, möchte ich wissen – es ist nicht erschöpft in unserem Begriff des Glaubens.“7 Wie dieses „glaubende Erleiden“, wie dieses „Halten des Gebotes“ gegenüber dem „Ausweichen“ für ihn aussah, beschrieb Bonhoeffer wenige Jahre später in seinem Buch „Nachfolge“, einer theologischen Auslegung der Bergpredigt.
Predigerseminar und Bruderhaus in Finkenwalde bei Stettin als Praxisfeld eines Lebens nach der Bergpredigt
1935 wurde Bonhoeffer von der Leitung der Bekennenden Kirche zum Direktor eines ihrer Predigerseminare berufen. Er sagte zu, weil er hier die Chance sah, in einer Gemeinschaft von Christen ein Leben nach den Geboten der Bergpredigt zu führen. Das Finkenwalder Predigerseminar8 unterschied sich gravierend von heutigen Einrichtungen dieser Art. Nur ihr Auftrag ist gleichgeblieben: Sie sollen examinierte Theologen auf das Pfarramt vorbereiten. Da Predigerseminar und Bruderhaus zur Bekennenden Kirche gehörten, wurden sie nicht aus Kirchensteuereinnahmen finanziert. Das galt auch für den Unterhalt der Pfarrer und Vikare. Die jeweils etwa 25 Vikare des Predigerseminars und die etwa 10 Pfarrer des seit dem zweiten Vikarskurs bestehenden Bruderhauses lebten entsprechend der Bergpredigt von der Fürsorge Gottes: Sie waren angewiesen auf Nahrungsmittel- und andere Sachspenden, die von Gemeinden und Einzelpersonen kamen, die meist zur Bekennenden Kirche gehörten. Der ehemalige Seminarist Wolf-Dieter Zimmermann schreibt: „Wer in einer derartigen Unsicherheit leben muss, lernt Gottes Bewahrung und menschliche Hilfe in besonderer Weise kennen. Darüber hinaus bekommt aber auch die biblische Botschaft in solch einer Lage eine ungewöhnliche Kraft. Je weniger Sicherungen der Mensch für sein eigenes Leben hat, desto stärker achtet er auf das, was ihm von der Bibel vermittelt wird. Denn: ‚Gott will ein Helfer sein.‘ Wenn jede Selbst-Sicherung ausfällt, erweist sich erst Gottes Stärke.“9
Neben der finanziellen Unsicherheit war die relative Abgeschiedenheit ein weiteres Merkmal von Finkenwalde, das 20 Minuten Fahrzeit mit dem Auto vom Stettiner Stadtzentrum entfernt in ländlicher Umgebung lag. Die Ländlichkeit war eine wichtige Voraussetzung des spirituellen Lebensstils der Vikarsgemeinschaft. Dabei war Finkenwalde kein Idyll. Die kirchenpolitische Situation bildete die dunkle Folie, auf deren Hintergrund die Arbeit des Predigerseminars erst die richtige Kontur gewann. Die jungen Vikare, die sich für Finkenwalde als Predigerseminar entschieden, und die Mitglieder des Bruderhauses wollten für die Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Synoden der Bekennenden Kirche von Barmen und Dahlem (beide 1935) kämpfen. Aufgrund der staatlichen Illegalität der Predigerseminare der Bekennenden Kirche mussten die Vikare damit rechnen, nach dieser Zeit weder festes Gehalt noch feste Einstellung noch ein Pfarrhaus zu bekommen. Zudem wurden sie ständig von der Gestapo beobachtet.
Die Notwendigkeit von persönlichen
Glaubenserfahrungen
1935 schreibt Bonhoeffer an seinen New Yorker Lehrer und Freund Reinhold Niebuhr: „Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen wo aufgrund einer bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellten reformatorischen Theologie [er denkt an die Barmer Theologische Erklärung] die Bergpredigt – und zwar in einem andern als dem reformatorischen Verständnis – wieder in Erinnerung zu bringen ist.“10 Bonhoeffer versucht durch sein Buch „Nachfolge“, über die Reformation hinaus den Anschluss an das Urchristentum und das Neue Testament zu gewinnen. Dadurch will er das Erfahrungsdefizit des Protestantismus, seinen Mangel an Konkretion des Glaubens, überwinden. Nicht ohne Grund sind im Neuen Testament den Paulusbriefen die Evangelien einschließlich der Apostelgeschichte vorgeschaltet. Rechtfertigungsbotschaft und Bergpredigt sind wechselseitig aufeinander zu beziehen. In der „Nachfolge“ findet Bonhoeffer dafür die klassisch gewordene Formulierung: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“11 Die heutige kirchliche Verkündigung kann
von Bonhoeffer lernen, dass ein entscheidungsloses Christentum in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft nicht zukunftsfähig ist.
Bonhoeffers erfahrungsbezogene Spiritualität ist noch aus weiteren Gründen hochaktuell. Angesichts einer spirituellen Auszehrung des Protestantismus hat sich die Wiederkehr der Spiritualität häufig an der evangelischen Kirche vorbei ereignet. Dem entspricht, dass sich gerade Menschen, die nach spirituellen Erfahrungen suchen, von der evangelischen Kirche abwenden. Sie erwarten von der Großkirche keine Antworten mehr auf ihre Fragen. Angesichts dieser Situation gilt es, in Aufnahme der Überlegungen Bonhoeffers eine erfahrungsbezogene Spiritualität zu entwickeln, die neben Intellekt und Willen auch Emotionalität und Sinnlichkeit einschließt. Für unsere Erlebnisgesellschaft gilt: „Gerade die geistig beanspruchten Menschen suchen vielfach mehr als eine weitere intellektuelle Anstrengung in der Religion. Immer mehr Menschen wollen den Glauben nicht nur denken, sondern auch spüren.“12
Ich hoffe, dass meine Überlegungen gezeigt haben, dass Bonhoeffers Verständnis der Bergpredigt bis heute ein unausgeschöpftes Potenzial zur Erneuerung von Theologie und Kirche in sich birgt.
2025 erscheinen die Titel „Nachfolge“
und Gemeinsames Leben“ von Dietrich Bonhoeffer in einer preislich sehr günstigen Neuauflage im Brunnen-Verlag, Gießen.
- Vgl. hier und im Folgenden Peter Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 29–31; vgl. auch Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, hg. und mit einer Einführung versehen von Peter Zimmerling, Gießen 42021, 7–33. ↩︎
- „Den tiefsten Eindruck einer lebendigen Gemeinde empfing Bonhoeffer in der Abessinian Baptist Church seines Freundes Frank Fisher im nahen Harlem, in deren Sonntagsschule und Gottesdiensten er ein halbes Jahr intensiv mitarbeitete“ (so Hans Christoph von Hase, in: Dietrich Bonhoeffer, Barcelona, Berlin, Amerika (1928–1931), hg. von Reinhart Staats/H.C. von Hase, DBW, Bd. 10, München 1991, 595). ↩︎
- Vgl. z.B. Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde (1935–1937), hg. von Otto Dudzus/Jürgen Henkys, DBW, Bd. 14, Gütersloh 1996, 486. ↩︎
- Dietrich Bonhoeffer, London (1933–1935), hg. von Hans Goedeking u.a., DBW, Bd. 13, Gütersloh 1994, 273. ↩︎
- A.a.O. ↩︎
- Paul Scheurlen (Hg.), Vom wahren Herzenstrost. Martin Luthers Trostbriefe, Stuttgart 1930, 59. ↩︎
- DBW, Bd. 13, 128f (Hervorhebung im Text). ↩︎
- Heute sind nur noch die Grundmauern übrig. Inzwischen ist in deutsch-polnischer Zusammenarbeit ein Gedenkgarten am historischen Ort angelegt worden. ↩︎
- Wolf-Dieter Zimmermann, Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer. Einblicke in ein hoffnungsvolles Leben, Berlin 1995, 71. ↩︎
- DBW, Bd. 13, 171. ↩︎
- Bonhoeffer, Nachfolge, 61. ↩︎
- Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende. Göttingen 1997, 133. ↩︎