„Der Christ muss Sonnenuntergänge um sich herum erleben können, ohne dass ihm deswegen seine Sonne mit untergeht. Und gewiss werden die Sonnenuntergänge ihn wirklich mit in die Schatten hüllen, in das, was man wohl eine Weltnacht und Gottesfinsternis nennen mag. Aber es ist ihm untersagt, sich (…) mitverfinstern zu lassen“
(Urs von Balthasaar I Wer ist ein Christ? Einsiedeln 1966, S 20f.).
Mir sagt dieses Zitat zweierlei. Erstens: Sonnenuntergänge sind real. Wir sollten nicht so tun, als gäbe es sie nicht. Deswegen braucht es die gebotene Nüchternheit, sich auf dunkle Zeiten einzustellen. Zweitens: Die Sonne selbst bleibt. Wir leben mit dem auferstandenen Jesus. Sein Licht strahlt für alle Zeit, auch wenn bei uns die Lichter ausgehen.
Wir brauchen die gebotene Ehrlichkeit
Was ich jetzt schreibe, widerstrebt meinem Naturell. Ich gehe gerne hoffnungsvoll nach vorn. Ich sehe mehr die Chance als die Probleme, nehme gerne neue Wege in Angriff, statt frustriert stehen zu bleiben.
Mal ehrlich: Warum benennen wir nicht, was im Argen liegt? Der Verdacht ist schnell vorhanden, dass nicht richtig geglaubt, nicht richtig gebetet, nicht genügend vertraut wird. Ich will das Wagnis eingehen und Klartext reden. Jedoch: Mir ist unwohl dabei. Wie wird die Reaktion sein?
Wenn nichts mehr geht … in der Kirche
Feurige Fürsprecher unserer Kirche (und dazu zähle ich mich durchaus) würden sagen: „So darf man nicht reden. Kirche kann Krise. Und in der Kirche geht immer was!“ Und schon ist der Stecker gezogen; eine weitere Chance vertan, um ehrlich zu werden. Lasst es uns doch klar benennen, was wir erahnen: Die evangelische Kirche wird kleiner – und zwar dramatisch. Inzwischen sind die schmerzhaften Veränderungen auch vor Ort angekommen. Zusammenlegungen und Fusionen, Verkäufe und Stellenreduzierungen führen überall zum Frust. Im Jahr 2040 wird unsere Kirche in Württemberg voraussichtlich noch 1,25 Millionen evangelische Kirchenmitglieder haben. In 15 Jahren werden wir also wiederholt mehr ca. 1/3 der heutigen Kirchenmitglieder verlieren. Was ist die Folge? Das Flächennetz wird reißen. Es gibt keine volkskirchliche Vollversorgung mehr. Kindergärten werden aufgegeben und Religionsunterricht abgebaut. Kirche wird unsichtbar und für das Gemeinwohl zunehmend unbedeutend. Unterschätzen wir diese Tendenz nicht. Christen werden nur dann in Stadt- und Gemeinderäten, bei Oberbürgermeistern, Landräten und Landtag nur dann gehört, wenn sie für das Gemeinwesen relevant sind. Gut, wenn das Dekane und Bischöfe sind. Auch gut, wenn es Vertreter großer und wachsender freien Gemeinden und Gemeinschaftsgemeinden sind. Doch die Fläche verändert sich. Daran ändern auch die Leuchtturmorte nichts. Wenn am Volkstrauertag nicht mehr die Kirche, sondern die freie Trauerhilfe angefragt wird, werden wir über die verlorenen Inhalte stöhnen. Wenn die vier evangelischen und das eine katholische Kind im Ethikunterricht landen, weil keine eigene Reli-Klasse mehr zustande kommt, dann ist die christliche Bildung an Schulen am Ende angekommen. Wenn große Fusionen zu weniger Ortsidentität führen, dann werden noch mehr Kindergärten und Familienzentren an die Kommunen abgegeben. Wo hören Kinder und Familien dann die biblischen Geschichten aus erster Hand? Und wo wird die Bibel noch in die Hand genommen?
Müssten wir nicht mutig sagen: Es wird kleiner und weniger. Umso mehr müssen wir der Tendenz wehren, den eigenen Besitz zu sichern, den eigenen Bestand zum Maßstab zu machen, auf den eigenen Wachstum zu stieren.
Je weniger geht, desto mehr sollten wir gehen. Je weniger kommen, desto mehr sollten wir aufsuchen.
Es geht Jesus schlicht und allein um den Menschen: „Darum geht hin in alle Welt.“ Das Wort Jesu ist völlig unmissverständlich. Es ist kein Programm, kein Format, sondern ein Sehnsuchtswort Jesu.
Ich höre alle Argumente, z. B.: „Das darf man nicht gegeneinander ausspielen!“ Ja – das darf man nicht. Aber jetzt macht euch mal ehrlich! Brennt euer Herz? Liebt ihr die Menschen? Oder liebt ihr euer Projekt, eure Gemeindetermine, euer Nest? Seid ihr ein Menschenfreund – oder denkt ihr in Veranstaltungsformaten, Gottesdiensten, Gebäuden, Programmen und Formaten? Haben wir womöglich die Menschenliebe verloren, weil wir Gott in Häuser und Termine gepackt haben?
Wenn nichts mehr geht … in der Gemeinschaft
Es wird nicht einfacher mit der Ehrlichkeit. Jetzt geht es um uns Apis. Was wir der Kirche sagen, könnten wir auch uns sagen: Ja, wir erleben Aufbrüche. Unsere Gründung „Aktion Hoffnungsland“ ist ein echter Segen. Und das Gleiche können wir vom Schönblick sagen. Wir können Geschichten erzählen, wie einzelne Menschen zum Glauben kommen, wie wir eine internationale Gemeinde und einige Kindergärten gegründet haben und gründen werden. Unsere Gemeinden wachsen, und neue Gemeinden sind im Gründungsstatus.
Aber wir geben euch einen ehrlichen Einblick: Neulich sitzen wir im Vorstand der Apis. Wir sind tief betroffen. Der Jahresabschluss 2024 wird uns wieder ein Defizit von mehreren hunderttausend Euro bescheren. Nein, es wurde nicht weniger gespendet – ganz im Gegenteil! Aber die Kostensteigerungen sind schneller, sind wie ein fressendes Ungeheuer. Wir sind ehrlich: Wir brauchen mehr – oder es wird auf Dauer dramatisch weniger im Verband. Und wir brauchen euch! Steht für uns ein. Wir brauchen euer Gebet. Betet für uns!
„Bettelt nicht immer“, schreibt mir einer. Stimmt. Das möchten wir nicht. Aber wir möchten ehrlich sein. Dürfen wir das? Es ist, wie wenn ein kranker Mensch im Pflegebett die Schmerzen nicht mehr aushält und weint – und die Tochter oder der Sohn sagen: „Jammer nicht immer.“ Was soll denn da der Kranke sagen?
Wir wünschen uns so sehr, dass uns ein Feuer des Heiligen Geistes, ein Vertrauen auf seine Möglichkeiten ergreift. Und dass unter uns wieder geopfert statt gespendet wird.
Wir brauchen die gebotene Hoffnung
Wenn was gehen soll, dann …
Lasst uns diese Ehrlichkeit nicht mit Pessimismus verwechseln. Ja, Ehrlichkeit kann durchaus frustrieren und nach „unten“ ziehen. Das gilt für alle Krisen: Die Sonne kann in der Ehe und Familie, dem persönlichen Glauben, bei Krankheiten und drohender Arbeitslosigkeit untergehen. Doch Ehrlichkeit hat ein Ziel. Wir machen uns nicht einfach „nackig“. Es geht niemals um eine Zur-Schaustellung. Es geht darum, dass wir durch Ehrlichkeit den Anfang einer Haltungsveränderung erleben. Im Bestfall führt Ehrlichkeit zur persönlichen Buße.
Ich möchte einen Blick in den Kolosserbrief wagen:
Paulus liegt buchstäblich in Ketten. Die Krise könnte nicht größer sein. Paulus könnte jetzt sagen: Die anderen müssen ran. Mir sind die Hände gebunden … aber nein! Er nutzt seine geringen Möglichkeiten. Er schreibt den Kolosserbrief und wird zum Parakleten (Tröster und Mahner) für eine Gemeinde in der Krise – die Kolosser.
Wenn was gehen soll … lest den Kolosserbrief
Ein Tipp: Lest den Kolosserbrief am Stück. Nehmt euch die nötige Zeit für die wenigen Kapitel. Der Unterschied zur Befassung in kleinen Häppchen ist der, dass man noch mehr den Eindruck gewinnt, dass ein Gespräch zwischen Gott und mir stattfindet. Es ist wie ein „Hin und Her“, weniger ein „Was verstehe ich, und was möchte ich lernen?“. Die Bibel im Fluss zu lesen, ist eine eigene Art des Gebetes.
Und so frage ich Paulus und die Kolosser – ja, so frage ich Jesus selbst: „Sag mir, wenn nichts mehr geht, wie soll dann noch was gehen?“
Ich bin fündig geworden. Und diese Entdeckungen will ich teilen. Wenn nichts mehr geht …
- … dann bleibt dankbar (Kol 1,3-8).
- … dann betet (Kol 1,3.9;4,2-3).
- … dann schaut auf Jesus, den geheimnisvollen Schöpfer aller Dinger (Kol 1,15 ff.), in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen (Kol 2,3).
… dann vergewissert euch: Christus in euch, macht euch hoffnungsvoll (Kol 1,27). Sorgt darum, dass ihr in Christus fest verwurzelt und gegründet bleibt
(Kol 2,7ff). - … dann schaut nach oben statt nach unten. Trachtet nach dem, was droben ist (Kol 3,2ff.).
- … dann lasst euch das Gute schenken und das Böse abnehmen (Kol 3,5-15): Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, Vergebung und Liebe sind himmlische Markenzeichen. Lasst euch damit beschenken.
- … dann lasst das Wort Gottes „reichlich unter euch wohnen“ (Kol 3,16ff.).
- … dann führt eure Ehen und Familien im Sinne
Gottes (Kol 3,18-25). - … dann seid klug und weise. Kauft die Zeit aus
(Kol 4,5-6). - … dann denkt an die Geschwister in Fesseln
(Kol 4,18).
Der Kolosserbrief ist eine Anleitung zum Leben. In Zeiten, in denen nichts mehr geht, geht trotzdem was.
Kirche und Kirchenmenschen: Ob uns das hilft?
Gemeinschaften und Gemeinden: Ob wir uns davon anstecken lassen?
Kranke, Arbeitslose und Menschen im Krisenmodus: Ob euer Herz darin aufgeht?
Vielleicht geht da ja doch noch was!