08/2025-09/2025

Frau Haefele fragt sich

„Da hätten Sie aber durchaus mal Gnade vor Recht ergehen lassen können!“

Da ist er wieder, dieser Satz, der mir in meinem Alltag als Schulleiterin immer wieder begegnet – und zu dem ich mittlerweile ein ziemlich gespaltenes Verhältnis habe. Nicht weil ich ihn grundsätzlich falsch finde. Sondern weil er mir meistens in Situationen begegnet, in denen mein Gegenüber für sich oder sein Kind einen Vorteil herausschlagen wollte. Ständig kurz vor dem Vokabeltest krank nach Hause gehen, finde ich nicht so cool. Auch nicht, wenn man seine Ferien schon zwei Tage früher beginnt, weil die (mindestens zehnte) Oma ihren 85. Geburtstag feiert. Und wer mit Pflastersteinen „aus Versehen“ die Fensterscheiben einschlägt, hat das meines Erachtens vielleicht doch auch genau so gemeint. Wenn dann Konsequenzen anstehen, die nicht allen passen, dann ist da diese Fleisch gewordene Enttäuschung in den Gesichtern meiner Gegenüber zu sehen: Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich besonders als weibliche Schulleiterin diesen Aspekt fast gepachtet habe – manche Leute wirken durchaus schockiert, wenn ich nicht so lieb und nachgiebig bin, wie ich vielleicht auf den ersten Blick aussehe.

Aber warum bin ich immer wieder eine solche Enttäuschung für mein Gegenüber? Aus Freude am Strafen? Weil ich eine „Spaßbremse“ bin? Weil ich Macht so cool finde? Nein! Ich habe tatsächlich irgendwann eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Wenn man sich an dem orientiert, was Recht (also „richtig“) ist, dann öffnet das immer wieder Türen hin zu echter Veränderung statt bloßer oberflächlicher Pflästerchen, die nie lange halten. Wenn die Dauerschwänzerin durch eine Attestpflicht in die Lage versetzt wird, wieder regelmäßig den Unterricht zu besuchen. Wenn Eltern aufgrund von zwei Tagen Unterrichtsausschluss endlich anfangen, für ihr Kind echte psychologische Hilfe zu organisieren, damit es lernt, seine Aggressionen wirklich in den Griff zu bekommen. Wenn schlimmes Mobbing in einer Klasse endlich endet, weil der Täter zur Verantwortung gezogen wurde. Dann freue ich mich, dass das Festhalten am „Recht“ zu einer Verbesserung der Gesamtsituation geführt hat. Und genau dann ist auch der Punkt erreicht, wo es plötzlich mehr als angebracht ist, wirklich Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Denn jetzt gilt es, dem „Übeltäter“ oder der „Übeltäterin“ zu zeigen, dass ein Neuanfang möglich ist und uns das, was wir falsch gemacht haben, nicht ewig begleiten muss.
Von Paulus lernen wir, dass uns das Gesetz in einem ersten Schritt hilft zu sehen, was in unserem Leben in die falsche Richtung läuft. Aber dauerhafte Veränderung unseres Herzens als zweiten Schritt erleben wir nur durch die Gnade. Und dann ist Gnade nicht billig – sondern ein richtig cooles Geschenk, das mir zum Leben hilft. Gnade sollte vielleicht nicht immer vor Recht ergehen – aber sie sollte immer einen höheren Stellenwert einnehmen.

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